Der VDB führt die Diskussion zum Thema “Qualifikation als wissenschaftliche Bibliothekarin/wissenschaftlicher Bibliothekar” fort. Die Gesprächsteilnehmer des öffentlichen Round Table-Gesprächs am 4.3.2015 in Berlin haben Thesen ausformuliert, die vorab im VDB-Blog veröffentlicht werden. Es beginnen Kathrin Drechsel und Dr. Hans-Martin Moderow, Matthias Harbeck, Dr. Klaus-Rainer Brintzinger und Prof. Heidrun Wiesenmüller.
Kathrin Drechsel, Dr. Hans-Martin Moderow
- Das Berufsbild muss auf gesellschaftliche Entwicklungen Bezug nehmen:
- Der Bologna-Prozess hat die bundesdeutsche Bildungslandschaft gravierend verändert.
- Die novellierten Hochschulgesetzte betonen die ökonomische Verantwortung der Hochschulen verbunden mit stärkerer betriebswirtschaftlicher Ausrichtung.
- Neue Entgelt- und Besoldungssysteme bieten die Möglichkeit zu niedrigerer Eingruppierung.
- Technische Entwicklungen insbesondere in der Datenverarbeitung beeinflussen rasant das gesellschaftliche und private Leben.
- Der Umgang mit geistigem Eigentum erweist sich als Prüfstein für die Gesellschaft.
Aus einer Analyse kann abgeleitet werden, welche Gestaltungsspielräume sich für Bibliotheksstrategien und -konzepte, insbesondere für wissenschaftliche Bibliotheken, ergeben und welche Rolle dabei Kompetenzen und bibliothekarische Qualifikation, also die Befähigung zu einer beruflichen Tätigkeit, in einer Bibliothek spielen.
- Das Berufsbild muss den realen Wandel des Arbeitsalltags der wissenschaftlichen Bibliothekare in aller Schärfe zur Kenntnis nehmen.
Wissenschaftliche Bibliotheken definieren sich über ihre Zielgruppen: Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Studierende und andere wissenschaftlich Interessierte. Idealerweise ist der wissenschaftliche Bibliothekar/ die wissenschaftliche Bibliothekarin die Schnittstelle zwischen Bibliothek und Zielgruppen. Wissenschaftlichkeit kann nicht allein durch die Zielgruppe „Wissenschaftler“ definiert sein. Der „wissenschaftliche Bibliothekar“ muss wissenschaftlich bleiben, um einen Statusverlust (vgl. TV-L) zu verhindern. - Ein ergebnisoffener konstruktiver Diskussionsprozess kann Impulse zu einer neuen Aufstellung geben und identitätsstiftend wirken: Defensive Bestandswahrung oder aktive Zukunftsgestaltung?
Matthias Harbeck
- Ausbildung: Aus persönlicher Erfahrung kann ich die enge Verzahnung von bibliothekarischer Praxis mit der postgradualen Ausbildung nur befürworten und plädiere sogar für eine noch stärkere Koppelung (Pflichtprojekte an Ausbildungsbibliotheken, die mit dem Modul Management in Kooperation durchgeführt werden, um Projektmanagementkenntnisse und -methoden zu vertiefen – Ähnliches ggf. auch für andere Modulbereiche).
- Ausbildung: Im SSG/FID-Fachreferat ist ein wissenschaftliches Studium im betreuten Fach oder einem sehr eng angrenzenden Fachgebiet mit sich überschneidenden Diskursen aus meiner Sicht unabdingbar, da man sonst weder die Fachkultur verstehen wird, noch die Bedürfnisse der Community gemeinsam mit dieser in Serviceangebote umsetzen kann.
- Arbeitswelt: Das erforderliche Spezialwissen ist mittlerweile extrem angewachsen, die Anforderung, Drittmittelanträge für spezialisierte Förderprogramme zu stellen, potenziert diese Entwicklung: Zumindest als SSG/FID-Fachreferent – aber auch an diversen anderen Stellen im wissenschaftlichen Bibliothekswesen (z.B. EDV-Abteilungen) – muss man sich mit Prozessen der Digitalisierung, Tools und vorhandenen Lösungen des Forschungsdatenmanagements, Möglichkeiten der Tiefenerschließung komplexer Nachlässe (mit versch. Instrumenten), Open Access-PR, Webseiten-Usability, Urheberrechtsfragen, Hochschuldidaktik im Bereich der Informationskompetenzvermittlung auskennen und das alles neben einer hinreichenden Kenntnis der fachlichen Diskurse und der daran anknüpfenden Erwerbung und Erschließung von Materialien verschiedenster Publikationsarten.
Dr. Klaus-Rainer-Brintzinger
- Eine verantwortliche Tätigkeit in Bibliotheken, insbesondere an Hochschulbibliotheken, setzt eine hohe Wissenschaftsaffinität voraus. Ein Studium in einem Wissenschaftsfach ggf. ergänzt durch eine weitere akademische Qualifikation oder wissenschaftliche Tätigkeit bildet dafür eine gute Basis.
Liest man die Forderungen des Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Infrastrukturen in Deutschland – worunter auch die wissenschaftlichen Bibliotheken fallen –, dann gewinnt die wissenschaftliche (Vor)Bildung eine neue Bedeutung. - Die Dynamik des Berufsfeldes und die Breite des Berufsbildes erfordern für verantwortliche Tätigkeiten Persönlichkeiten, die in der Lage sind, sich rasch neue Fähigkeiten anzueignen und sich rasch auf neue Aufgaben einzustellen. Dazu qualifizieren – nicht ausschließlich, aber in besonderem Maße – breite, nicht primär anwendungsorientierte Studiengänge.
- Dieser Vorbildung sollte eine postgraduale bibliothekarische Ausbildung oder ein bibliothekarisches Traineeship folgen, wobei für diese Qualifikation unterschiedliche Zugangswege offen stehen sollten. Die Qualifikation sollte sich dabei weder vorrangig an den tradierten beamtenrechtlichen Gegebenheiten, noch an den Interessen der bestehenden oder potentiellen Ausbildungseinrichtungen orientieren.
Prof. Heidrun Wiesenmüller
- Der Nutzen eines universitären Fachstudiums für die Tätigkeit wissenschaftlicher Bibliothekarinnen und Bibliothekare liegt vor allem darin, dass man mit dem universitären Wissenschaftsbetrieb, seiner Organisation und seinen „Spielregeln“ vertraut ist, die Bedürfnisse von Wissenschaftlern gut einschätzen und passgenaue Dienstleistungsangebote machen kann. Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Universitätsbibliotheken ist ein solcher Background außerdem nützlich, um Dozentinnen und Dozenten „auf Augenhöhe“ begegnen zu können.
- Mit Blick auf typische Tätigkeiten im Fachreferat jedoch wird die Bedeutung des Fachstudiums stark überschätzt. So kann man etwa durchaus qualitätvolle Sacherschließung in einem Fach leisten, das man nicht studiert hat (vgl. dazu: Heidrun Wiesenmüller/Dagmar Kähler: Sacherschließung und Fachstudium – eine untrennbare Verbindung? In: Bibliothekare zwischen Verwaltung und Wissenschaft / hrsg. von Irmgard Siebert und Thorsten Lemanski. Frankfurt am Main : Klostermann, 2014, S. 205-218).
- Das Positionspapier des VDB betont zu Recht das sehr breite Spektrum an Tätigkeiten, das von wissenschaftlichen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren ausgeübt wird. Dabei lassen sich eigentlich keine Aufgaben mehr identifizieren, die ausschließlich von dieser Berufsgruppe übernommen werden und deshalb als Alleinstellungs- und Abgrenzungsmerkmal dienen könnten. In der Praxis gibt es keine scharfen Trennlinien (mehr): Vielfach sind Kolleginnen und Kollegen mit einer Diplom- bzw. Bachelor-Ausbildung mit hoher Kompetenz in denselben Gebieten aktiv – insbesondere in kleineren Einrichtungen. Es sind also nicht einzelne Tätigkeiten, die per se identitätsstiftend sind. Man muss eher von graduellen Unterschieden sowie einer Kombination verschiedener Aspekte ausgehen, aus denen sich das Profil wissenschaftlicher Bibliothekarinnen und Bibliothekare ergibt.
Liebe Frau Drechsel, lieber Herr Moderow, im Fazit der von Ihnen verfassten Stellungnahme des Regionalverbands Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen (http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-29824/stellungnahme_%20berufsbild_entwurf_final.pdf) schreiben Sie „… ohne den wissenschaftlichen Bestandsaufbau und die wissenschaftliche Erschließung ergibt sich kein eigenständiges Berufsbild des Wissenschaftlichen Bibliothekars“. Verstehe ich das richtig, dass Sie demnach eine Schwerpunktverschiebung hin zu oder eine Spezialisierung auf Informationsvermittlung ablehnen? Die vorherige Problembeschreibung des Papiers kann ich nachvollziehen, aber mit dem Fazit hadere ich noch.